Unsere
Ausstellungen
»Vor Schand und Noth gerettet«?!
06.05.2021—30.03.2022
v.o.n.u.
Carl Pippich: 8., Alser Straße – Niederösterreichisches Findelhaus, 1880-189
© Wien Museum
Das hundertjährige Findelhaus, 1884
© Wien Museum
Kindeszeichen über das Findelkind Jakob Semrath (1850)
© Bezirksmuseum Josefstadt
Ausstellungsansicht, Foto: Carolina Frank, 2021
Die Sonderausstellung »Vor Schand und Noth gerettet«?! Findelhaus, Gebäranstalt und die Matriken der Alser Vorstadt ist im Bezirksmuseum Josefstadt zu sehen und in wurde Zusammenarbeit mit der Stabstelle Bezirksmuseen im Wien Museum erarbeitet. Gezeigt wird die eindrucksvolle Geschichte der ehemaligen Institutionen im heutigen 8. und 9. Bezirk aus dem Blickwinkel der Geschlechter-, Sozial- und Medizingeschichte. Das Gebärhaus und das Findelhaus waren Institutionen für die Unterschicht und stellten einen damals modernen Versuch dar, mit einer großen Anzahl ungewollter Kinder umzugehen. Das interdisziplinäre Team kontextualisiert und präsentiert Exponate aus über 20 Institutionen. Die Eröffnung fand auf dem YouTube-Kanal der Wiener Bezirksmuseen statt.
Die Eröffnung zum Nachsehen
Gründung des Gebärhauses als Teil des Allgemeinen Krankenhauses 1784
In der Gründungsschrift des Allgemeinen Krankenhauses unter Josef II. aus dem Jahr 1784 heißt es über das Gebärhaus: „Die öffentliche Vorsorge bietet durch dieses Haus geschwächten Personen einen allgemeinen Zufluchtsort an / und nimmt, da sie die Mutter vor der Schand und Noth gerettet, zugleich das unschuldige Geschöpf in Schutz, dem diese das Leben geben soll.“ Die Ausstellung – deren Titel sich hinterfragend auf das Zitat bezieht – setzt sich mit der Lebenssituation jener Frauen auseinander, die ungewollt Mutter wurden oder keine Möglichkeit hatten, ihr Kind selbst großzuziehen. Vor allem arme, ledige und oft auch zugewanderte Frauen nutzten die Institution des Gebärhauses, um dort ihre Kinder auf die Welt zu bringen. Sie waren durch ökonomische Zwänge und ein restriktives Eherecht in ihrem Handlungsspielraum stark eingeschränkt, verlässliche Verhütungsmittel gab es keine, Schwangerschaftsabbrüche standen unter Todesstrafe. Der Staat hatte bevölkerungspolitisches Interesse an Arbeitskräften und Soldaten.
Mittellose Frauen zwischen medizinischer Versorgung und Fremdbestimmung
Während besser situierte Schwangere gegen Bezahlung im Gebärhaus viele Privilegien – wie beispielsweise ein privates Zimmer oder besseres Essen – genossen, spielten Intimität und Sensibilität im Umgang mit mittellosen Frauen wenig Rolle. Als „Unterrichtsmaterial“ der ausschließlich männlichen Studenten trugen sie maßgeblich zu medizinischen Errungenschaften bei. Das Gebärhaus und der geburtshilfliche Unterricht brachten wesentliche Errungenschaften im Bereich der Medizin. Operationstechniken wurden weiterentwickelt und der Chirurg und Geburtshelfer Ignaz Semmelweis fand Erklärungen für das Kindbettfieber. Dadurch erkannte er die Relevanz von Desinfektion.
Typisches Schicksal: Von der Gebäranstalt ins Findelhaus
Das Gebärhaus als Teil des Allgemeinen Krankenhauses stand in enger Verbindung mit dem Wiener Findelhaus, das ebenfalls 1784 gegründet wurde und sich ab 1788 in der Alserstraße 23 befand. Fast alle Kinder, die im Gebärhaus zur Welt gebracht wurden, wurden daraufhin ins nahe gelegenen Findelhaus gebracht. In der Zeit ihres Bestehens zwischen 1784 und 1910 nahm diese Institution rund 750.000 Kinder auf und vermittelte sie in weiterer Folge meistens innerhalb weniger Tage an Pflegeplätze aufs Land, wo sie häufig ein von Diskriminierung und harter Arbeit geprägtes Leben erwartete, sofern sie die ersten Jahre überlebten. In manchen Jahren des 19. Jahrhunderts wurde ein Drittel der in Wien geborenen Kinder von einer ledigen Frau in er Gebäranstalt zur Welt gebracht und im Wiener Findelhaus abgegeben.
Auf den Spuren der eigenen Familiengeschichte
Die im Gebärhaus geborenen Säuglinge wurden in der Pfarre Alser Vorstadt getauft, bevor sie ins Findelhaus gebracht wurden. Eine katholische Taufe galt als Voraussetzung für die Aufnahme eines Kindes im Findelhaus, was vor allem für jüdische Frauen eine Diskriminierung bedeutete. Die Taufen wurden in Taufbüchern protokolliert, die auch die Funktion von Geburtenbüchern erfüllten. 2015 wurden die Matriken der Pfarre Alser Vorstadt online zugänglich gemacht. In der Ausstellung »Vor Schand und Noth gerettet«?! Findelhaus, Gebäranstalt und die Matriken der Alser Vorstadt wird Besucher*innen die Möglichkeit gegeben, selbst familienhistorisches Forschen auszuprobieren.
Modernisierungen und Ende der Institutionen Gebär- und Findelhaus
In den über 100 Jahren ihres Bestehens erlebten das Gebärhaus und das Findelhaus zahlreiche Veränderungen. Nach ihrer institutionellen Abkoppelung vom Allgemeinen Krankenhaus im Jahr 1851 kamen Gebärhaus (1865) und Findelhaus (1868) in niederösterreichische Landesverwaltung („N.Ö. Landes- Findel- und Gebäranstalt“). Ihr Charakter änderte sich im Laufe der Zeit grundlegend – Begriffe wie Mutterliebe und Kinderrechte kamen in den öffentlichen Diskurs, das Kindeswohl stand verstärkt im Fokus. Mit der Trennung von Gebärhaus und Findelhaus 1909 und der Umwandlung und Übersiedelung des Findelhauses ins Landes-Zentralkinderheim Gersthof 1910 endete das Findelwesen. Der Grundstein für eine neue staatliche Kinder- und Jugendfürsorge war jedoch gelegt. 1910 wurde das Gebäude des ehemaligen Findelhauses abgerissen, das Gebäude des ehemaligen Gebärhauses gibt es noch.
Die Ausstellung schließt mit einer Auseinandersetzung mit der Situation von Frauen im Hinblick auf Selbstbestimmung und reproduktive Rechte in der Gegenwart.
100 Exponate aus über 20 Institutionen
Anhand von rund 100 historischen Objekten, dreidimensionalen Grafiken und Reproduktionen aus über 20 wissenschaftlichen Institutionen, wie etwa den Josephinum-Sammlungen der Medizinischen Universität Wien, dem Niederösterreichische Landesarchiv, dem Wiener Stadt- und Landesarchiv und dem Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch, setzt sich die Ausstellung »Vor Schand und Noth gerettet«?! Findelhaus, Gebäranstalt und die Matriken der Alser Vorstadt mit den ehemaligen Einrichtungen im heutigen 8. und 9. Bezirk auseinander. Historische Fotos und Gemälde, Schriftdokumente, Zeitungsartikel, geburtsmedizinische Geräte sowie etwa die Ausstattung von Hebammen werden gezeigt. Die für die Ausstellung von den Musiker*innen Martin Spengler und Manuela Diem neu interpretierten Wiener „Findelkind-Lieder“ sind an einer Audio-Station zu hören. Im Herbst 2021 erscheint eine umfangreiche Publikation. Ein vielschichtiges Rahmenprogramm begleitet die Laufzeit der Sonderausstellung.
Ab 8. Juni 2021 war im Bezirksmuseum Josefstadt außerdem eine Adaption der Kunstintervention Changing Cabinet aus dem Tröpferlbadraum des Bezirksmuseums Wieden zu sehen sein.
Zur Ausstellung ist eine umfangreiche Publikation erschienen.
Weiterführende Informationen
- Artikel in derAchte zur Ausstellung, Mai 2021
- Artikel in derAchte zur Audiostation: „Was stehst du so alleine?“, August 2021
- Wien Museum Magazin: „Idealisierte Bilder einer Fürsorgeeinrichtung“, November 2021
- Newsletter des Wien Museums: „Neue Publikation aus dem Bezirksmuseum Josefstadt“, November 2021
- Podcast Im Museum „Das Schutzpockenimpfzeugnis“, November 2021